Infografik
Warum die Bremer Baumwollbörse auch nach 150 Jahren unverzichtbar ist
150 Jahre Baumwollbörse: Eine fast vergessene Bremer Geschichte
Zehntausend Streitfälle hat Bremens Baumwollbörse im vergangenen Jahr geschlichtet. 150 Jahre nach ihrer Gründung hat sie nicht an weltweiter Größe verloren.
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Immer wenn sich irgendwo auf der Welt Verkäufer und Käufer über die Qualität der gelieferten Baumwolle nicht einig werden können, schalten sie die Experten der Bremer Baumwollbörse als Schiedsrichter ein. Diese Oberhoheit in Qualitätsfragen der International Cotton Association wird sogar über eine Handelsverfügung der UN abgesichert. Auch wenn Bremen schon seit 1971 keine Baumwollterminbörse mehr hat, ist die Bedeutung der Bremer Baumwollbörse weiterhin groß in der Welt der weißen Naturfaser.
Farbe, Verschmutzung, Faserlänge – Baumwolle in der Qualitätsprüfung
Karsten Fröses genaue Berufsbezeichnung ist "Arbiter", was aus dem Lateinischen übersetzt soviel wie Schiedsrichter bedeutet. Fröse hat heute 872 Ballen Baumwolle aus Mali zu begutachten.

Jeder wiegt 220 bis 230 Kilo. Weil es unsinnig wäre, die komplette Lieferung nach Bremen zu schicken, öffnet der Baumwoll-Klassierer jetzt die Tagespost: Kartonweise kleine Päckchen mit Musterproben, jede ein Pfund schwer und jede stellvertretend für einen Ballen Baumwolle. Ausgebreitet auf einer Lage Packpapier misst Karsten Fröse erst einmal den Feuchtegehalt um festzustellen, ob die Bedingungen für seine Beprobung schon so wie in den Regeln festgelegt sind. Erst dann kann er loslegen.
Es geht um über ein Dutzend Prüfparameter: Dinge wie Farbe, Grad der Verschmutzung und vor allem die Faserlänge bestimmt Fröse als unabhängiger Gutachter: Er zupft immer wieder kleinere Bündel aus einem Fetzen Baumwolle – bis die Fasern gleich lang angeordnet zwischen seinen Fingern wie frisch gekämmt aussehen. Stapellänge ziehen heißt dieser Vorgang, den alle Qualitäts-Klassierer weltweit beherrschen müssen.

Karsten Fröse: "Die Faserlänge ist entscheidend dafür, welche Verwendung die Baumwolle später findet. Kurze Faserlängen werden gerne etwa in Jeans verarbeitet. Längere finden wir häufig in höherwertigeren Textilien." Die Qualitäten sind weltweit standardisiert. Fröse kann auf hunderte Standardproben in kleinen Schächtelchen zurückgreifen, sollte er sich mal auf Anhieb nicht ganz sicher mit der Einordnung sein.
Der Weg der Baumwolle
Das Zünglein an der Waage
Karsten Fröse muss sich sicher sein: Bei seinem Job geht es um den Cent. Im vorliegenden Fall wird der Schiedsrichter den streitenden Parteien nahelegen, dass die Ware einen Cent weniger Wert pro Pfund hatte, weil sie durch Verschmutzungen etwas unter den vertraglich festgelegten Standards lag: "Das rechnet sich natürlich bei den Mengen, über die wir hier reden, mitunter zu ganz beträchtlichen Summen hoch." Um Millionen, wenn es um ganze Schiffsladungen Baumwolle geht. Etwa 90 Cent bringt ein Pfund Baumwolle, der Ballen 500 bis 600 Dollar. Die Langfaser kostet etwa 900 Dollar. Bioware bringt laut Fröse in der Regel immer rund den doppelten Preis.

Was Fröse von Hand macht, erledigt hinter einer Scheibe in einem Reinluftlabor auch seine Kollegin Chantal Burawski vom Faserinstitut Bremen, eine schon 1969 vorgenommene frühe Ausgründung der Uni Bremen. Im Prüflabor übernehmen Analysemaschinen den Job des Klassierers Fröse: "Vielleicht etwas schneller als ich, aber nicht besser als ich", wie er lächelnd kommentiert. Aber es gebe Märkte wie den US-Baumwollmarkt, in denen auf die Laborverfahren bestanden werde. Und so spielen die Bremer auch hier in der Laborprüfung das Zünglein an der Waage.
Wo die Baumwolle herkommt
Kompetenzzentrum in der Baumwoll-Welt
Stephanie Silber ist schlicht stolz auf die Institution der Bremer Baumwollbörse. Sie ist im vergangenen Jahr als erste Frau von den 130 Mitgliedern der Bremer Baumwollbörse in den ehrenamtlichen Präsidentenjob gewählt worden, aber mischt schon lange im Baumwollgeschäft mit:
Wir haben uns hier in Bremen ein echtes Kompetenzzentrum in Sachen Baumwolle aufgebaut in diesen 150 Jahren. Wenn sie in der Welt der Baumwolle irgendwo auf diesem Planeten irgend jemanden nach Bremen fragen, dann kennt der Mensch uns.
Stephanie Silber, Präsidentin Bremer Baumwollbörse
Mit ihrer Firma Otto Stadtlander hält sie selbst die Fäden in diese Baumwollwelt in den Händen. Von der Marcusallee 3 und der Dependance in Schanghai aus handeln ihre 27 Kollegen Baumwolle 24 Stunden an den sieben Tagen der Woche. 95 Prozent ist heute Termingeschäft. 240 Millionen Euro Umsatz schafft die OSTA GmbH pro Jahr. Stephanie Silber: "Dabei hat sich der Handel für uns als Bremer Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Meist kommt die Ware gar nicht mehr nach Bremen und wird hier gelagert, sondern wir verschiffen sie direkt etwa aus Indien nach Indonesien zur weiteren Verarbeitung."
Knotenpunkt des weltweiten Baumwollhandels
Wofür die OSTA als Handelsunternehmen zuständig ist? "Für die Logistik, die Finanzierung und die Qualität", kommt es von Sephanie Silber wie aus der Pistole geschossen auf diese Frage zurück. Und sie zeigt im Untergeschoss der Villa die Qualitätssicherung in ihrem Haus: Kirill Birguliev ist einer ihrer Baumwollklassierer und geht mit ihr das Problem mit der griechischen Ernte aus dem vergangenen Jahr durch. Den Griechen hat es die Wochen der Ernte komplett verregnet, was die Baumwolle grau angefärbt hat. Birguliev kann Stephanie Silber immerhin versichern, dass die technischen Eigenschaften der Baumwolle gleichgeblieben sind und zeigt ihr die Faserlängen.

Trotzdem wirkt Stephanie Silber bekümmert: "Wenn man das sieht, weiß man, dass man von etwa 15 Millionen Euro an Ernteverlust sprechen muss, weil der Regen die Qualität schon verändert hat. Das ist dann hart für die Menschen da unten, die von der Baumwolle leben." Nach zwanzig Jahren im Job lebt die Geschäftsführerin immer noch Baumwolle "mit Herzblut", wie sie von sich selber sagt: "Mich hat Baumwolle immer fasziniert: Man kommt mit so vielen unterschiedlichen Menschen überall auf der Welt zusammen, mit so vielen unterschiedlichen Kulturen. Das hat etwas, das einen nicht mehr loslässt."
Experten-Tipps beim Kleidungskauf?
Bleibt zum Abschluss die Frage an Karsten Fröse nach einem Geheimtipp beim Einkauf von Baumwollprodukten. Wie kauft er seine Hemden und Hosen? Der oberste Baumwollschiedsrichter weltweit lacht: "Da gucke ich vielleicht etwas mehr auf die Fasern und passe auf, dass die Fäden im Stoff keine kleinen Knötchen bilden." Aber letzten Endes verlasse auch er sich eher auf Erfahrungswerte, die jeder kenne: "Taugt ein Hemd oder eine Hose dieser oder jener Marke nach einer Weile noch oder sind die Sachen hin. Da bin ich nicht anders als jeder andere."
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 4. Januar 2022, 19:30 Uhr